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Автор Юсси Адлер-Ольсен

Jussi Adler-Olsen

Selfies

Der siebte Fall für Carl Mørck, Sonderdezernat Q

Thriller

Aus dem Dänischen von Hannes Thiess

Gewidmet unserer wunderbaren »Familie« in Barcelona –

Olaf Slott-Petersen, Annette Merrild,

Arne Merrild Bertelsen und Michael Kirkegaard

Prolog

Samstag, 18.  November 1995

Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon in dem nassen Laub herumstapfte, aber ihre nackten Arme waren eiskalt. Das Geschrei oben im Haus war mittlerweile so laut und klang so wutentbrannt, dass ihr der Atem stockte. Sie spürte, wie ihre Augenwinkel feucht wurden, aber sie hielt die Tränen zurück, weil sie wusste, was ihre Mutter sagen würde: Heulen macht Falten und Falten sind hässlich. In Bemerkungen dieser Art war ihre Mutter richtig gut.

Dorrit betrachtete die dunklen Spuren, die sie auf der laubbedeckten Wiese hinterlassen hatte, dann zählte sie zum x-ten Mal die Fenster und Türen am Haus, obwohl sie in- und auswendig wusste, wie viele es waren. Zwei Flügeltüren, vierzehn große Fenster und vier längliche im Keller. Alles in allem einhundertzweiundvierzig einzelne Scheiben.

Sie war ziemlich stolz, dass sie schon so weit zählen konnte. In ihrer Klasse konnte das niemand sonst.

Da hörte sie, wie sich quietschend die Kellertür im Seitenflügel öffnete. Kein gutes Zeichen.

Und schon kam das Hausmädchen die Kellertreppe herauf und steuerte direkt auf sie zu. »Ich geh da nicht mit rein«, flüsterte sie.

Im dichten Gebüsch ganz hinten im Garten versteckte sie sich gern, oft stundenlang. Aber diesmal war das Hausmädchen zu schnell. Schon hatte es Dorrit am Handgelenk gepackt.

»Dorrit, du kannst doch nicht mit den guten Schuhen hier rumlaufen! Wenn Frau Zimmermann das sieht!«

Ohne Schuhe, nur auf Strümpfen, trat sie vor das große Ecksofa. Die beiden Frauen starrten sie an, als wüssten sie nicht, was sie hier im Wohnzimmer zu suchen hatte.

Ihre Großmutter schien jeden Moment lospoltern zu wollen. Ihr Blick war kalt und hart. Ihre Mutter hatte offenbar geweint. Lauter Falten gruben sich in ihr Gesicht, genau solche, vor denen sie Dorrit immer warnte.

»Nicht jetzt, Dorrit, wir unterhalten uns«, sagte sie.

Dorrit sah sich um. »Wo ist Papa?«

Die beiden Frauen tauschten einen Blick. Für den Bruchteil einer Sekunde glich ihre Mutter einem verschreckten Tier, das sich in eine Ecke duckt. Das kannte Dorrit schon.

»Geh ins Esszimmer und beschäftige dich, schau dir Zeitschriften an oder was auch immer«, befahl ihre Großmutter.

»Wo ist Papa?«, wiederholte sie.

»Darüber reden wir später. Er ist gegangen. « Die Großmutter wedelte ihre Enkelin mit einer ungeduldigen Handbewegung weg.

Die wich ein paar Schritte zurück. Genauso gut hätte sie im Garten bleiben können.

Der Esszimmertisch war nicht abgeräumt. Neben Tellern mit eingetrockneten Frikadellenresten und Blumenkohl in Béchamelsoße lag unordentlich das Besteck. Zwei Kristallgläser waren umgekippt, auf dem Tischtuch überall Weinflecken. Nichts war wie sonst. Nichts war so, dass Dorrit im Esszimmer bleiben mochte.

Sie wandte sich der Eingangshalle mit den vielen hohen, dunklen Türen und den abgegriffenen Klinken zu. Das Haus war riesig und in diverse Flügel unterteilt, aber Dorrit kannte jeden Winkel. Im ersten Stock roch es so intensiv nach Großmutters Puder und Parfums, dass der Geruch noch in ihren Kleidern hing, wenn sie von dort nach Hause kam. Dort, im hellen Licht, das durch die hohen Fenster fiel, spielte Dorrit nicht gern. Abgesehen davon gab es auch nichts, was sie dort hätte machen können.